| |

Eure Geschichten
Der Bote
Das silbrige Licht des wolkenlosen Sternenzeltes fiel hinab wie dünne Seide und
ließ den starren Frost auf dem Kopfsteinpflaster wie ein endloses Meer aus
Diamanten funkeln.
Doch war die schmale Häuserschlucht überwiegend erfüllt von schwarzer
Dunkelheit, welche eine Atmosphäre des Schreckens, der Furcht und letztlich auch
des Todes schuf. Jede verborgene Nische, jede versteckte Ecke, alles
Unterschwellige war besessen von abgrundtiefer Finsternis, die sich, einer
unheilbaren Krankheit gleich, an diesem Ort eingenistet hatte.
Aber eines vermochte die Dunkelheit in ihrer Unheimlichkeit noch zu übertreffen:
die Lautlosigkeit. Eine Stille, so fundamental, dass auch das leiseste Geräusch
Beachtung fand, beherrschte die enge Gasse zwischen den verwahrlosten, hoch
aufragenden Mauern aus bröckeligen Backsteinen und mit Brettern vernagelten
Fenstern.
Gegenwärtig waren die einzig hörbaren Geräusche die raschen Schritte des
kahlköpfigen Mannes mit dem Aktenkoffer, die in einem harmonischen Rhythmus auf
dem gefrorenen Kopfsteinpflaster klackten. Voller Nervosität tastete sein Blick
die weit hinaufreichenden, grauen Seitenwände der verlassenen Wohnungsblocks ab,
unverwandt suchend nach fremden Bedrohungen, die seinen Botenauftrag zu
gefährden vermochten.
Nichts war zu entdecken, nichts zu hören, niemand zu sehen.
Dennoch klammerte er die rechte Hand schmerzhaft fest um den Griff des
Aktenkoffers und hastete durch die enge Seitengasse, als sei er auf der Flucht.
Angstschweiß stand ihm trotz der bitteren Kälte in großen Tropfen auf der Stirn,
sein Atem stob in kleinen, hastigen Rauchwölkchen zum Sternenzelt empor.
Falls er sie enttäuschte, würde sein Schicksalsweg ihn zum schwarzen Ort der
Verbannung führen. Dessen war er sich bewusst und daher presste er den ledernen
Aktenkoffer gequält an seinen schmächtigen Brustkorb, der sich zügig hob und
senkte, da seine Lungen so hastig arbeiteten wie ein überdrehtes Uhrwerk.
Immer wieder sah er sich ängstlich um, wollte düsteren Schattenwesen auflauern,
bevor sie ihm auflauern konnten, doch erspähte nichts Lebendiges. Vor
Aggressivität schreiende Graffitibotschaften prangten in roten Blockbuchstaben
zu seiner Linken an den Backsteinwänden.
Es lebe der Schwarze Schöpfer, tat eine kund.
Tod dem König der Goldenen Sonne, forderte eine andere.
Diese Botschaften waren furchtbar, gar entsetzlich, doch flüsterte der Verstand
des kleingewachsenen Mannes, dass sie gefahrlos waren.
Farbloser Dampf stieg wabernd aus den Senklöchern und Kanalschächten, doch barg
auch dieser keine Gefahr.
Gerade als sein wild schlagendes Herz sich eine Verschnaufpause zu gönnen
gedachte und ein wenig zur Ruhe kam, ertönte in der Nähe ein schrecklich lautes
Fiepen.
Der Mann drückte den ledernen Koffer mit gekreuzten Armen an seine Brust und
verfiel in eine Bewegungsstarre. Seine Augen, zwei gläserne Murmeln, stierten
wie gelähmt geradeaus. Sein Atem stand still. Sein weißer Mantel flatterte im
eisigen Wind.
In der Nähe eines übergelaufenen Müllcontainers knabberte eine Ratte an
vergammelten Essensresten. Ihr Fiepen klang glücklich und zufrieden.
Der Mann pustete eine Rauchwolke der Erleichterung aus und lockerte den Griff um
den Aktenkoffer. Er rückte seine goldgeränderte Hornbrille zurecht und eilte
weiter.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit – die Zeit schien sich innerhalb der finsteren
Häuserschlucht in die Länge zu ziehen wie ein Gummiband – erreichte er die mit
ihnen vereinbarte Markierung.
Schnaufend blieb er vor einem Blumenladen stehen, der sich rechterhand seines
Weges befand. Der Laden war alt und vermutlich seit vielen Jahren verlassen.
Trotzdem war er so gut erhalten, dass er am hiesigen Ort gänzlich deplaziert
wirkte. Über der gläsernen, stellenweise gesprungenen Eingangstür stand in
geschwungenen Lettern:
Amoron’s Rosenverkauf
Eine wunderschöne Goldaura umgab das holzverschalte Gebäude wie ein warmer
Mantel.
Auf dem Schaufenster – die einzige unversehrte Scheibe, die der kahlköpfige Mann
innerhalb der Häuserschlucht gesehen hatte – stand in verschnörkelten
Goldbuchstaben, die ihrerseits einen angenehm warmen Lichtkranz ausstrahlten,
ein Hinweis geschrieben:
Zum Grünen Tor des Lebens 777 Meter in diese Richtung 
Der Mann stöhnte vor Entzücken und ein frohes Lächeln legte sich auf seine
Lippen.
„Fast da…“, flüsterte er, ohne dass die Worte als dicker Qualm aus seinem Mund
entwichen, denn im Schein des Blumenladens war es so mild wie an einem sonnigen
Frühlingsmorgen.
Der Mann mit dem Aktenkoffer schob die verrutschte Hornbrille hoch und blickte
dann in die Richtung, die der Pfeil wies. Dort sah er in der Ferne ein grünes
Licht schimmern. Er lachte kurz vor Glück und begann den klackenden Stepptanz
seiner Schritte erneut, als er zu laufen begann.
Die ersten dreihundert Meter bis zum endgültigen Ziel hatte er strebsam
zurückgelegt, als hinter ihm eine tiefe und verrauchte Stimmte ertönte.
„He, du da!“, grunzte sie, worauf das harmonische Klacken seiner Schritte
verstummte.
Der kahlköpfige Mann stieß einen erstickten Schrei des Entsetzens aus und
schloss die rechte Hand so fest um den Griff des Aktenkoffers, dass sich seine
Fingernägel in die Handfläche gruben.
„Dreh dich um“, befahl die raue Stimme.
Der Mann rückte seine Brille mit seinem so stark zitternden Zeigefinger zurecht,
dass er sich fast ins Auge gestochen hätte. Dann wandte er sich langsam auf den
Absätzen um.
„Was ist in dem Koffer, Freundchen?“, wollte die hässliche Stimme wissen. Der
Mann mit dem Aktenkoffer erkannte, dass sie einem düsteren Schattenwesen
gehörte.
Seine Gedärme begannen vor Angst so stark zu kribbeln, dass er sich den Schritt
benetzte.
„D-d-der g-gehört mir n-n-icht“, stammelte der kahlköpfige Mann und drückte
seine Botenware so beschützend an sich wie ein Vater sein kleines Kind. Sein
Kiefer schlotterte auf und ab, der feuchte Schweiß auf seiner Stirn wurde nass.
„Mir auch nicht, Freundchen. Aber ich will ihn trotzdem haben. Also her damit!“,
sagte die düstere Stimme des Schattenwesens, das nicht mehr war als eine
umrisshafte Silhouette in der Finsternis.
„D-d-das g-geht n-nicht“, erwiderte der Mann stotternd.
Die finstre Silhouette stürmte aus der Dunkelheit nach vorn und aus dem
Schattenwesen wurde ein junger Mann mit schwarzer Lederjacke, schwarzer
Lederhose und zu Stacheln gegelten Haaren. Seine Haut war schlecht, völlig
narbig, und um seinen Hals baumelte eine wertvolle Goldkette, die gewiss
gestohlen war.
Das Narbengesicht zauberte scheinbar aus dem Nichts ein Klappmesser herbei, ließ
mit einem kurzen Knopfdruck eine scharfe Klinge hervorspringen und drückte sie
dem kleinen Mann mit dem Aktenkoffer unters Kinn.
„Doch, das geht“, knurrte das Narbengesicht und wollte dem Mann den Aktenkoffer
entreißen. Doch dieser klammerte sich mit aller Gewalt an ihn. Das Narbengesicht
machte ein verblüfftes Gesicht. Angesichts seines bedrohlichen Klappmessers
hatte er mit keinerlei Widerstand gerechnet.
„D-d-das v-verstehen Sie n-nicht. Ich b-bin ihr B-bote!“
Das Narbengesicht fletschte die Zähne.
„Und ich bin Alex der Messerstecher“, keifte er und drehte dem kahlköpfigen Mann
die Messerklinge so tief ins lose Fleisch unter dem Kinn, dass warmes Blut
hervorquoll. Der kahlköpfige Mann war jetzt schweißgebadet und wimmerte unter
Schmerzen. Sein Klammergriff um den Aktenkoffer lockerte sich, sodass Alex der
Messerstecher ihn fortreißen konnte.
Das Narbengesicht schleuderte den Koffer auf den Boden und versuchte ihn zu
öffnen. Aber er blockierte.
Der Blick des Narbengesichts fiel auf das dreistellige Zahlenschloss, woraufhin
er einen Schrei der Wut ausstieß.
„Mach ihn auf! Sofort!“, befahl er.
Der Mann mit dem weißen Mantel und der goldgeränderten Hornbrille schluchzte
unter Tränen der Verzweiflung.
„N-nein. Bitte, s-so v-verstehen S-sie doch. Sie w-w-werden meine Seele f-fort
schicken, w-w-wenn ich m-meinen B-b-botendienst nicht e-erfülle. Sie w-werden
mich z-zum T-Tempel des V-vergessens schicken!“, der kahlköpfige Mann war am
Boden zerstört, vollkommen aufgelöst.
Doch Alex der Messerstecher zeigte kein Erbarmen. Er schlug den kahlköpfigen
Mann mit der linken Hand zu Boden und kniete sich dann neben ihm nieder. Er
klemmte ihm mit dem linken Unterarm die Luft ab und drückte ihm mit der rechten
Hand die Messerklinge unter das blutende Kinn.
„Keine Ahnung, wovon du da quatschst, Freundchen“, brummte das Narbengesicht.
„Ich weiß auch nicht, wer sie sind und was passiert, wenn du diesen Koffer nicht
bei ihnen ablieferst. Aber eins kannste mir glauben: Ihre Bestrafung wird ein
Zuckerschlecken sein gemessen an den Qualen, die ich dir bereite, wenn du mir
die Kombination nicht verrätst!“
Er löste den Würgegriff des linken Unterarms, worauf der kahlköpfige Mann
keuchend nach Luft schnappte. Seine Blase entleerte sich ein zweites Mal.
„O-okay“, sagte er hustend und brach in frischen Tränen aus.
Der kahlköpfige Mann schob seine Hornbrille hoch und nahm den Aktenkoffer
entgegen, den das Narbengesicht ihm mürrisch entgegenhielt.
Der kleingewachsene Glatzkopf betrachtete kummervoll das Zahlenschloss, welches
auf 666 eingestellt war. Mit einer schlimm zitternden Hand drehte er jedes
Rädchen um eine Ziffer nach oben: 777.
Ein kurzes Klicken ertönte, dann übergab er den Aktenkoffer heulend dem
Kriminellen.
Alex der Messerstecher ließ sein schönstes Geht-doch-Lächeln sehen.
Er drehte den Aktenkoffer herum und klappte ihn auf.
Eine unvergleichliche Korona goldenen Lichts strömt aus dem geöffneten
Aktenkoffer und bescheint sein narbiges Gesicht. Die Narben verschwinden und
seine schlechte Haut wird glatt. Seine zu Stacheln gegelten Haare fallen herab
und das offensichtliche Diebesgut um seinen Hals löst sich in Luft auf. Seine
schwarze Kleidung wird makellos weiß, sein bösartiger Blick wandelt sich in
unschuldige Gutherzigkeit.
Das gleißende Goldlicht weitet sich aus, bestrahlt die Welt jenseits Alexanders
Gesicht, fällt auf die hinter ihm liegende Dunkelheit und verwandelt sie in
weißes Tageslicht. Der Frost taut, die Kälte wird vertrieben und wunderbare
Wärme breitet sich aus. Die Häuserschlucht wird überflutet mit allen
regenbogenfarben: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett.
Die zerschlagenen Fenster werden durch Unbeschädigte ersetzt, die grauen
Backsteine erhalten einen farbenfrohen Anstrich. Heitere Lebendigkeit tritt in
die tote Welt, muntere Menschen schlendern bummelnd umher, vergnügt zwitschernde
Vögel kreisen am hellblauen Himmel, der ohne Wolken ist.
Alles ist gut, alles ist rein, alles ist vollkommen.
Alexander beginnt vor Glück zu weinen, seine Augen sind tränenüberströmt im
Angesicht dieser Herrlichkeit. Kraftlos fällt ihm der geöffnete Aktenkoffer aus
der Hand.
Er landet klatschend auf dem trockenen, warmen Kopfsteinpflaster und klappt dann
von allein wieder zu.
Ein schneidender Wind war aufgekommen, der die gefühlte Temperatur in einen
unerträglich niedrigen Bereich senkte. Die Finsternis verschluckte nun nahezu
jedes Licht, da eine dichte Wolkendecke aufgezogen war, die den dünnen Schein
der Sterne verbannte. Ratten fiepten aufgeregt in ihren schwarzen Verstecken,
hier und dort plätscherte schmutziges Abwasser in Rinnsälen. Ansonsten herrschte
Stille.
Alex der Messerstecher saß weinend auf dem Boden; er tastete sein Gesicht ab und
spürte die tiefen Narben. Er legte eine Hand auf seine Haare und fühlte die
spitzen Stacheln. Er sah an sich hinab und erblickte die schwarze Kleidung.
Unglauben stand in seinen Augen, welcher alsbald ersetzt wurde durch
verzweifelte Niedergeschlagenheit.
Das Narbengesicht entdeckte das Messer in seiner rechten Hand und warf es
angewidert fort. Dann schlug er die Hände vor Trauer und Scham vors Gesicht und
stieß klagende Schluchzer aus.
Der kahlköpfige Mann beobachtete ihn schweigsam und mit ernsten Augen, wobei er
kleine Atemwölkchen ausstieß. Dann ging er auf den Aktenkoffer zu und hob ihn
auf. Mit zitternden Händen stellte er die Rädchen des Zahlenschlosses jeweils um
eine Position auf die alte Kombination zurück: 666.
Dann rückte er seine goldgeränderte Hornbrille zurecht und lief hurtig in
Richtung des unweiten grünen Lichtschimmers, das vom Tor des Lebens stammte …
seine Schritte ein harmonisches Klacken auf dem gefrorenen Kopfsteinpflaster.
|