Eure Geschichten

 

 

 

Feuer des Lebens

Erinnerungen sind der Blütenstaub des Augenblicks, der an unseren Fingern haften bleibt.

Die Sonne ging auf über dem Tal der Lichter und den Bergen der Hoffnung, ganz im Westen Merons. Der erste aller Strahlen schoss wie ein silbriges Band aus himmlischer Seide zwischen den beiden höchsten Gipfeln hindurch, streifte mit seinen Fingerspitzen die Baumkronen des Malogwaldes, und verwandelte die Oberfläche des tiefen Sees in ein Bankett aus Abermillionen glitzernder, tanzender Wellen. Der Wind blies sanft aus Osten, das leise Rauschen der Bäume schien die ganze Welt einzuhüllen.
Die Sonne wirkte an jenem Morgen geradezu makellos, eine vollkommene Scheibe im glühenden Rot einer Feuersglut, ein leuchtendes Auge der Kraft und Magie. Der Sommer war vor einigen Tagen erwacht, die Tage so klar und die Luft so rein wie zu keiner anderen Zeit des Jahres. Die Natur reckte ihre müden Glieder.
Nidan, einziger Sohn von Marlik dem Bauern, war auf dem Weg ins Dorf, um mit seinen Freunden zu spielen. Er schlenderte unbeschwert mit nackten Füßen über den steinigen Weg, und genoss den Duft von Morgentau, der in der Luft lag. Dabei schwang sein Lebensbeutel, den er wie alle anderen an einem Bändchen aus Leder um den Hals trug, wild hin und her. Das Geräusch, das die kleinen Glaskugeln darin erzeugten, erinnerte Nidan an das der Kieselsteine unter seinen nackten Füßen.
Eremias der Stille saß auf einer Bank aus altem Eichenholz, sein Blick ruhte, nachdenklich und mit einer gewissen Traurigkeit, auf dem See, dessen gegenüberliegendes Ufer noch in dichten Nebel gehüllt war. Neben ihm lag ein kunstvoll geschnitzter Wanderstock, dessen oberes Ende wie eine Krone aussah. Seinen prall gefüllten Lebensbeutel hielt Eremias in der linken Hand, in der rechten ruhte eine Pfeife, aus der kaum sichtbare Wölckchen aufstiegen.
Eremias war alt, sein Gesicht von tiefen Furchen durchzogen, und von einem ereignisreichen und harten Leben geprägt, dennoch konnte man bei genauerem Hinsehen noch immer den kleinen Jungen erkennen, der er einmal vor vielen Jahren gewesen war. Es war das Gesicht eines großherzigen Mannes. Er hatte volles, silbernes Haar und blaue Augen von erstaunlicher Klarheit.
Neben der Bank stand ein einsamer, uralter Baum von dem die Legende sagte, er war zu Lebzeiten ein mächtiger Zauberer gewesen, der im Augenblick seines Todes hier erstarrte. Und der See war der Sage nach durch die Tränen entstanden, die er im Laufe der Jahrtausende wegen seiner Einsamkeit vergossen hatte. Schützend breitete er seine Äste über Eremias aus, als würde er die Gesellschaft des alten Mannes genießen. Ein kleiner Vogel mit einem prächtigen bunten Federkleid saß in der Krone des Baumes, und schien ebenso erfreut über die Ankunft des Frühlings zu sein wie alle anderen Tiere und Menschen. Vergnügt trällerte der Vogel eine fröhliche Melodie.
Nidan kannte Eremias lediglich aus den Erzählungen der Dorfbewohner, aber er hatte ihn bis jetzt noch nie selbst gesehen. Seine Geschichte hingegen kannte jeder. Früher war Eremias ein begabter Goldschmied am Hofe des Königs gewesen, sein Ruf war in die ganze Welt hinaus getragen worden, und der Goldschmied folgte seinem Ruf, dabei hatte er viele Länder und Meere bereist, unzählige Lebenskugeln gesammelt. Seine Frau Nara hatte ihn auf Schritt und Tritt begleitet, bis eines Tages das Schicksal wie eine bösartige Welle über ihnen zusammen gebrochen war. Nara war von einer mysteriösen Krankheit befallen worden, sie erlag ihr drei Tage später. Und seit diesem Tag, es mochten über vierzig Jahre vergangen sein, sah man den alten Mann nur noch bei Nacht umherstreifen, eine dunkle, gebückte Gestalt im schützenden Gewand der Dunkelheit.
Er verließ sein Haus nahe dem Dorf niemals bei Tag. Gelegentlich fertigte er noch Schmuckstücke an, aber die meiste Zeit schien es so, als würde er für die Außenwelt einfach nicht existieren. Man munkelte, es läge ein Fluch auf ihm, weil er den Teufel betrogen hatte, und nun für immer das Sonnenlicht meiden müsste, doch Nidan glaubte nicht an solche Hirngespinste. Getrieben von kindlicher Neugier und Unvoreingenommenheit lief er zu Eremias hin, grüßte schon aus der Ferne mit einem freundlichen Hallo, und winkte.
Eremias drehte seinen Kopf, und seine Augen begannen sofort zu lächeln, als er den Jungen sah.
„Hallo Junge! Ich kenne Dich, Du bist Nidan, richtig?“
Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, und blies einen nahezu perfekten Kreis aus Tabakrauch in die Luft.
Der Junge ging näher heran, und sein Blick fiel auf den großen Beutel in Eremias Hand. Die Finger zitterten wie ein schwacher Grashalm im Wind. Sie waren blass und wirkten zerbrechlich, dunkelblaue Adern verliehen ihnen ein geisterhaftes Aussehen. Obwohl sich die beiden noch nie zuvor gesehen hatten, schien sie ein unsichtbares Band der Vertrautheit zu verbinden, als ob sie in einem früheren Leben gute Freunde gewesen wären. Die Aura, die den alten Mann umgab, klopfte leise an Türen in Nidans Verstand, die sich noch nicht öffnen ließen.
Irgendetwas ist seltsam dachte Nidan, ich kenne diesen Mann. Ich kenne ihn wie mich selbst. Doch der Gedanke verflüchtigte sich so schnell wie er gekommen war.
„Und ihr seid Eremias! Keiner weit und breit hat solch viele Lebenskugeln wie ihr, sagt mein Vater.“
Eremias lachte, und entblößte dabei eine Reihe makelloser Zähne. Doch seine Freude schwand rasch, das Lächeln wurde von Traurigkeit vertrieben.
„Mag sein“, sagte er nachdenklich, und öffnete den Beutel. Er nahm eine der erbsengroßen Kugeln heraus und rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Aus der Entfernung konnte Nidan nichts erkennen, so gerne er es auch gesehen hätte. Er sah nur, dass die Kugel in allen erdenklichen Farben strahlte und schimmerte. Sie verwandelte das Licht der Sonne geradewegs in ein kleines Farbenmeer.
Nidan ging einen Schritt näher.
„Warum sieht man euch nie bei Tag, Herr?“
Eremias schien aus seinen Gedanken gerissen zu werden und sah verwirrt auf.
„Was? Warum... Oh.“
Er nickte und verstaute die Kugel wieder in seinem Lebensbeutel. „Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“
Nidans braune Augen begannen zu leuchten. Voller Erwartung stotterte er: „Ja... Ja, das kann ich!“
„Es ist seltsam. Ich habe noch nie mit jemandem über das gesprochen, wo viele der Menschen ein dunkles Geheimnis vermuten. Aber vielleicht kann mir ein Kind dort helfen, wo meine Weisheit all die Jahre versagte.“
Eremias zog an seiner Pfeife.
„Seit dem Tod meiner Frau vor vielen Jahren“, fuhr er fort, „verlasse ich mein Haus nur noch, wenn es unbedingt nötig ist. Und selbst dann nur bei Nacht.“
„Und warum seid ihr jetzt hier?“
„Weil ich wohl die Zeit vergessen habe. Ich habe nachgedacht. Über das hier.“
Er deutete mit seinem Blick auf den Beutel in seiner Hand.
„Ich wollte die letzten Jahre einfach vermeiden, dass weitere Kugeln hinzukommen.“
Er schaute auf den See, wo gerade ein Schwan sein Gefieder säuberte.
„Wieso möchtet ihr das nicht?“ fragte Nidan, und griff an seinen Lebensbeutel, der vor der Brust hing.
„Ich habe auch schon ein paar Lebenskugeln, die sind aber bestimmt nicht so schön wie ihre. Und ich will noch gaaanz viele weitere!“
„Weißt du mein Junge, für mich stellen sie keinen Grund zur Freude mehr dar. Es sind lediglich Geister der Vergangenheit, die mich plagen.“ Eremias nahm eine andere Kugel hervor, und ließ sie mit überraschend viel Geschick zwischen seinen alten Händen tanzen. Sie war etwas kleiner als die vorherige, und wirkte zerbrechlicher.
„Sie sind das Feuer des Lebens, so sagt man. Doch Feuer kann einen Mann verbrennen, mein Junge.“
Nidan war sehr klug für seine neun Jahre, und er war sehr wohl vertraut mit dem Prinzip der Kugeln. Seine Mutter Jola hatte es ihm erklärt, als er fast noch ein Baby gewesen war. Schenkte einem das Schicksal ein schönes Erlebnis, oder die Begegnung mit einem ganz besonderen Menschen, dann wuchs in der Hand eine solche Kugel heran. Eine Lebenskugel. In ihr lebten diese besonderen Augenblicke weiter. Und so war es auch mit traurigen Erlebnissen, oder Begegnungen mit schlechten Menschen. Doch diese Kugeln waren weniger schön, meistens waren sie grau oder schwarz, wirkten leblos. Keine Kugel glich der anderen, alle waren verschieden. Einige waren klein und gingen irgendwann zwangsläufig verloren, so gut man auch darauf achtete. Andere wiederum waren groß und schwer, sie würde man niemals verlieren. Nidan selbst hatte schon einige gesammelt, und fast alle waren wunderschön. Er war stolz darauf und achtete besonders gut auf seinen Beutel.
„Ich hatte ein ereignisreiches Leben, bevor meine geliebte Frau verstarb, habe unzählige Kugeln gesammelt, eine schöner als die andere. Und als sie starb, habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen. Ich habe mich unter der Dunkelheit der Nacht vergraben, habe mir all meine schönen Kugeln immer und immer wieder im Schein der Kerze angesehen, bis meine Augen schmerzten. Die schönen brennen in meinem Herzen, die dunklen tief in meiner Seele.“
Nidan hörte gebannt zu, ohne zu unterbrechen. An seine Freunde dachte er gar nicht mehr. Das hier war wichtig, er konnte es spüren.
„Ich habe vermieden, dass weitere dazukommen, deshalb ging ich nicht mehr vor die Tür. Ich ertrage die Schönheit der hellen und die Traurigkeit der dunklen einfach nicht mehr, es plagt mich seit vielen Jahren.“
Er wischte sich eine Träne aus dem linken Auge, die sich dort während seiner Worte gebildet hatte. Sein Atem ging schwerer als noch kurz zuvor, und sein Blick wanderte ziellos über den See.
Nidan war ein kluger Junge. Zu klug, um gleich loszureden. Nachdenklich richtete er den Blick zu den Bergen, wo die Sonne bereits die Gipfel überschritten hatte. Schließlich sprach er: „Ich verstehe nicht, warum euch die Lebenskugeln solchen Kummer bereiten. Meine Mutter sagt immer, man solle sich einfach daran erfreuen. Und sie sagt, einige tun sich sehr schwer damit. Sie werden traurig dabei.“ Er machte eine Pause in der Hoffnung, Eremias könnte mit der Antwort bereits zufrieden sein, doch der Blick des alten Mannes verriet das Gegenteil. Also fuhr Nidan fort.
„Ich denke, man sollte sie immer nahe dem Herzen tragen, und sie mit möglichst vielen Menschen teilen. Dann verlieren sie nie an Glanz. Und die dunklen sind dazu da, damit man die Schönheit der hellen überhaupt erst zu schätzen weiß! Die Kugeln sind unsere Lebensenergie, und ohne sie gäbe es nichts, sagt sie!“
Eremias hörte gebannt zu. Nidan griff in seinen Beutel und zog eine sehr kleine Kugel heraus. „Das hier ist die Geburt meiner kleinen Schwester vor vier Jahren. Sie kann einen manchmal wirklich verrückt machen, aber eigentlich mag ich sie sehr gerne, wenn sie nicht gerade meine Spielsachen im Garten vergräbt, oder mit irgendwelchen Dingen nach mir wirft. Und die hier“, er nahm eine andere, „ist mein letzter Geburtstag. Meine Mutter hat einen Kuchen gebacken, der war riesig groß. Und all meine Freunde waren da.“
Vorsichtig tat er die Kugeln zurück in den Beutel.
„Und wenn ich schließlich diese Welt verlasse und in die nächste eintrete, dann nehme ich all diese Kugeln mit, die Schönen und die Dunklen. Sie leben so lange weiter, und begleiten mich durch die Zwischenwelt, bis ich schließlich wiedergeboren werden, und alles von vorne beginnt.“

Mit einem fröhlichen Trällern erhob sich der kleine Vogel vom Baum, und verschwand bereits nach wenigen Augenblicken in der Ferne. Sein Gezwitscher wurde immer leiser, bis der Wind schließlich ganz davon wehte.
Nidan sah nach unten und starrte eine Weile nachdenklich auf den kleinen Stein, den er mit seinem Fuß geschickt hin und her rollte. Er suchte nach Worten, die seine Gedanken möglichst klar wiedergeben sollten; dann flogen sie ihm tatsächlich zu, als hätte eine geheimnisvolle Stimme sie ihm ins Ohr geflüstert.
„Habt einfach Freude daran. Ihr solltet keinen Schmerz beim Betrachten der hellen empfinden. Und die dunklen sollten euch immer daran erinnern, wie schön die hellen sind. Vor allem aber solltet ihr wieder damit anfangen, weitere zu sammeln! Was ist das Leben ohne Lebenskugeln?“
Der alte Mann blieb still, also fuhr Nidan fort: „Ich weiß Herr, das ist nicht immer einfach. Mein Vater nennt es wohl die guten alten Zeiten, und wirkt oft nachdenklich, wenn er davon redet. Der schönste Ort der Welt ist die Vergangenheit, sagt er manchmal. Doch er lehrt mich immer wieder, dass es gilt, neue Kugeln zu finden, überall da draußen. Und ich denke, da hat er recht. Ich denke, man sollte für jede schöne Kugel einfach nur dankbar sein, und aus ihr Kraft für jeden kommenden Tag schöpfen.“
Eine Weile schwiegen die beiden. Nidan hielt dem Blick des alten Mannes nicht lange stand, und sah verschämt zu Boden. Seine blonden Haare fielen ihm immer wieder ins Gesicht, während er seine Füße betrachtete.
Er war erleichtert, als Eremias das Wort ergriff.
„Du bist ein außergewöhnlicher Junge. Sehr außergewöhnlich.“
Nidans Wangen wurden rot, und ein verschämtes Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit.
„Ach wo, ich habe mir nur schon oft Gedanken über die Kugeln gemacht, hier und da was aufgeschnappt, und mir manches zusammengereimt.“
„Möchtest du in eine meiner Lebenskugeln hineinsehen?“
Das kam überraschend, doch Nidan zögerte keine Sekunde.
„Ja! Das würde ich gerne tun!“
Eremias griff in seinen Beutel, den er immer noch in der rechten Hand hielt, und zog eine purpurn schimmernde Kugel heraus, die fast so groß war wie eine Kirsche. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, direkt vor Nidans Gesicht, und zwar so, dass sie sich genau zwischen der Sonne und den Augen des Jungen befand. Grenzenloses Staunen befiel die Miene Nidans, als er durch das Farbenspiel und die Lichtreflexe im Innern der Kugel in ihren Bann gezogen wurde.
Für einen Augenblick verließ er das Hier und Jetzt.
Ich sehe mit Eremias´ Augen, denke seine Gedanken.
Ich bin am Hofe des Königs, habe mich in den unzähligen Gängen des Schlosses verlaufen, als ich nach den Gemächern des Schatzherren gesucht habe. Alles hier sieht gleich aus, und unsagbar edel. Der Boden ist aus feinstem Marmor, die Wände mit Blattgold verziert. Türen an beiden Seiten des Ganges sind aus edelsten Hölzern, und mit aufwendigen Schnitzereien versehen. Die Säulen zu beiden Seiten des Ganges, in dem ich mich befinde, sind mit prächtigen Ornamenten geschmückt, an der Decke glänzen Gemälde der talentiertesten Künstler des Landes. Durch eines der Fenster scheint das Sonnenlicht, der Wind weht einen angenehmen Duft herein: den von Rosen und wildem Mohn. Alles wirkt so friedlich.
Jeder meiner Schritte zieht ein langes Echo hinter sich her, doch schafft es keiner meiner leisen Rufe, einen Bediensteten herbeizuholen, um mich aus diesem Irrgarten herauszuführen. Und eigentlich möchte ich gar nicht weg von hier.
Plötzlich öffnet sich eine Tür, meine Rufe scheinen doch Erfolg gebracht zu haben. Es ist die Tür am Ende des Ganges. Und schon aus der Ferne weiß ich eines: Dies ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Sie kommt auf mich zu. Und als ich ihr in diese wunderschönen Augen schaue, deren smaragdgrüne Iris leuchtet wie der hellste Stern am Himmel, als ich ihr Lächeln sehe, mit dem man einen Engel zum weinen bringen könnte, als ich sehe, wie ihr nachtschwarzes Haar wie Seide über ihre Schultern fällt, da weiß ich, dass sie es ist. Sie, die ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Ich weiß es einfach.
Ich bin mir sicher, ihr noch in keinem früheren Leben begegnet zu sein, dennoch habe ich vom ersten Augenblick an das Gefühl, sie zu kennen wie mich selbst.
Sie stellt sich vor mich und ich sehe, wie sie mit ihrem wunderschönen Mund Worte formt, doch ich kann sie nicht hören. Ich sehe sie nur an, bin vollkommen fasziniert von diesem Anblick makelloser Schönheit, so dass alle anderen Sinne wie betäubt sind.
Nach einer Weile fasse ich mich, und da wird mir erst klar, wie ich sie die ganze Zeit doch angestarrt habe. Ich bin verlegen, entschuldige mich für mein Verhalten, mehrfach, doch sie lächelt nur und fragt mich, ob ich mich verlaufen habe. Und dann sagt sie etwas, das ich mein Leben lang nicht vergessen werde, und das im Laufe der Jahre, die ich mit ihr verbringen werde, immer mehr an Bedeutung gewinnen wird: Sie sagt, sie wird mir den rechten Weg zeigen. Und ich weiß, dass nur sie das tun kann. Nur sie.
Sie nimmt meine Hand. Ein Erdbeben der Sinne erschüttert mich, und breitet sich in mir aus bis in die kleinste Ader. Ihre Hand, sie ist so warm, so zart, so vertraut. Es ist, als sollte es immer so sein, als hätten wir schon als eins auf diese Welt geboren werden sollen. Ich weiß nicht mehr, wo meine Haut aufhört und ihre anfängt, es gibt plötzlich nur noch ein Wir.
Wir gehen den Gang entlang, sie lächelt mich an. Und ich trotte unbeholfen und überwältigt vom Augenblick hinter ihr her wie ein kleiner Junge. Und dennoch fühle ich mich größer und reicher als der mächtigste aller Könige...
Das Bild verblasste langsam, doch der überwältigende Eindruck dieses Augenblicks schwebte noch eine ganze Weile über Nidan. Das war etwas anderes als das, was er in seinen Lebenskugeln trug. Hier hatte er nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden vermocht.
„Das...w...war... “ brachte er heraus. Mehr nicht. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an, die Handflächen hingegen feucht.
Eremias legte die Kugel ganz behutsam zurück in den Beutel. Seine Augen wirkten blass und traurig.
„Das war einer der schönsten Momente meines Lebens. Nun weißt du, wie gefährlich es sein kann, wenn man sich dem zu sehr hingibt. Es ist kein Tag, keine Stunde vergangen, in der ich nicht der Macht dieser Kugel erlegen bin.“
Als Nidan sich wieder gefasst hatte, suchte er nach tröstenden Worten. Es schien eine kleine Ewigkeit zu vergehen, bis er sie gefunden hatte.
„Das war doch wundervoll. Was ist daran so schlimm?“
Keine Antwort, nur ein trauriger Blick. Eremias wollte wieder alleine sein, seine Aura verriet es.
Nidan blickte den Weg entlang, in die Richtung, in der das Dorf lag. „Ich muss jetzt leider weiter“, sprach er, und reichte seine Hand zum Abschied. „Ich komme oft hier vorbei, fast jeden Tag. Vielleicht...“
Eremias ergriff die Hand des Jungen, drückte sie sanft, und lächelte. „Ja, Vielleicht.“ Und dann fügte er hinzu: „Du bist zweifelsohne außergewöhnlich. Das warst du schon früher.“
Nidan runzelte die Stirn. Da war es wieder, dieses leise Klopfen.
„Sind wir uns schon einmal begegnet, Herr?“
Eremias nickte. „Es ist länger her, als du dir vorstellen kannst. Ich war mir zunächst nicht sicher, doch dann habe ich dich schließlich erkannt. Wir waren Freunde. Die besten. Du wirst dich irgendwann erinnern, da bin ich mir sicher. Und jetzt geh zu deinen Freunden, sie warten sicher schon auf dich.“
Seltsam. Diese Worte verwirrten Nidan nicht im geringsten. Er glaubte zu verstehen, und er glaubte sehr wohl, sich zu erinnern. Viele Jahre und viele Leben waren seitdem vergangen, doch er erinnerte sich. Und mit der Erkenntnis kam ein Lächeln, das jeden noch so trüben Tag verschönert hätte.
„Werden wir uns wiedersehen?“ fragte er schließlich.
„Man sieht sich immer wieder. Hab ich recht?“
Eremias zwinkerte dem Jungen zu. Und jetzt sah man ihn ganz deutlich, den Jungen, der er vor vielen Jahren einmal gewesen war. „Deine Worte klingen wie die eines weisen Mannes mit Tausenden von Lebenskugeln. Ich werde darüber nachdenken. Deine Eltern können stolz auf dich sein.“
Nidan verabschiedete sich schweren Herzens, und setzte seinen Weg fort. Er kam nur wenige Schritte weit.
„Nidan?“ rief ihm Eremias nach. Der Junge blieb stehen und drehte sich um.
„Ja?“
„Unser Geheimnis?“
„Unser Geheimnis!“ rief Nidan vergnügt und winkte.
Und während Eremias den See betrachtete, wuchs in seiner Hand eine neue, wunderschöne Kugel heran.