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Mein Vater Gottlieb war ein fanatischer Fußballfan. Bevor er Trainer der Damenfußballmannschaft BSV Schwenningen wurde, unternahm er sonntags mit mir und meiner fünf Jahre jüngeren Schwester Nina stets einen Spaziergang. Vorab jedoch, fuhren wir zum Mittagessen zu unserer Großmutter. Die Sonntagsmahlzeiten bestanden meistens aus Schweinegeschnetzeltem mit Salzkartoffeln an einer vorzüglichen Rahmsoße. Der Gurkensalat war mit einem Sauerrahmdressing angemacht, die Gurkenscheiben schwammen zwischen weißen Klümpchen in der Salatschüssel. Das erinnerte mich an schlechte Milch, weswegen ich Gurkensalat nach Großmutterart mied. Nach den ausgiebigen Sonntagsmahlzeiten, machten wir uns auf zum Verdauungsspaziergängchen ins Grüne. Was für ein süßes Wort - Verdauungsspaziergängchen - es wurde jedes Mal ein über mehreren Stunden gehender Marathon. Meinen Vater interessierten die kleinen Wanderweghinweise, die für die sportlichen Jogger angebracht waren, nicht. Er marschierte querfeldein, über morsche Baumstämme, durch stacheliges Gestrüpp und über Bäche - schon wieder so ein süßes Wort - über Flüsse, nein über Ströme war ich gezwungen zu springen. Nina nahm er auf die Schulter, aber ich, ich musste selbst schauen wie ich den reißenden Strom bezwang. Er hörte nicht auf mein Gequengel und das Geheule. „Ich komm da nicht rüber!“ Er lief einfach weiter. Ich hatte die Wahl nasse Füße zu bekommen oder, was ich aber auf gar keinen Fall wollte, im Wald alleine zurückzubleiben. Mein Vater überschätzte manchmal meine Fähigkeiten, so kam ich sehr oft vom Bauchnabel abwärts durchnässt Zuhause an. Meine Mutter ging auch sehr oft mit uns spazieren und das war, weiß Gott, oft ein abenteuerliches Unterfangen. Aber solche Waldabenteuer, die wir mit unserem Vater erlebt hatten, konnte nur ein Mann, ein Vater - mein Vater zustande bringen. Er sprach nur wenig, aber er tat zumindest so, als würde er zuhören. Mein Vater fand bei jedem Spaziergang, egal in welchem Wald, bei welcher Stadt, zu unserem Auto zurück. Er verfügte über ein überdurchschnittliches Orientierungsvermögen, er verlief sich nie. An einem recht warmen Sonntagmorgen, es war Juli - mein Geburtstagsmonat, mein Lieblingsmonat - die Sonnenstrahlen schienen durch unser Kinderzimmerfenster herein und keine einzige Wolke war in der großen Weite des Himmels zu erkennen, spazierten Nina und ich zu unserer Oma. Wir kamen nicht auf die Idee, Jacken oder gar Regenkleidung von Zuhause mitzunehmen. Nach dem Mittagessen sagte mein Vater zu mir. „Karen, besorge dir von der Oma drei Plastiktüten.“ „Für was brauchst du die?“, wollte ich wissen. „Wirst schon sehen.“ Im Auto angekommen, schmiss ich die Tüten zu meiner Schwester auf den Hintersitz. „Papa, wo fahren wir hin?“, fragte Nina. Er beantwortete meine Frage mit einem Schweigen. Wir fuhren sehr lange, damals dachte ich, wir wären zwei Stunden unterwegs gewesen, doch heute weiß ich, es konnte sich nur um eine Stunde gehandelt haben. Im Autoradio gab Udo Jürgens sein „Aber bitte mit Sahne“ zum Besten und wurde danach von Howard Carpendales „Deine Spuren im Sand“ abgelöst. Nina und ich plapperten während der ganzen Fahrt auf kindliche Weise und nervten unseren Vater mit naiven Fragen, die er in knappe, vor sich herbrummenden Sätzen beantwortete. Währenddessen und dazwischen lief im Radio eine Schnulze nach der anderen. Je weiter wir unserem unbekannten Ziel nahe kamen, um so kurvenreicher wurde die Landstrasse, die durch einen dicht bewachsenen Wald führte. Die frische, klare Luft, die durch das leicht geöffnete Fahrerfenster hereinströmte, wurde kühler. Mein Vater lenkte das Auto stetig bergauf, er fuhr teilweise durch sehr steile, enge Kurven und hielt erst an, als wir in einer Waldschneise neben einem riesigen Tannenbaum parkten. Nirgends war ein Haus, ein Auto oder ein Spaziergänger zu sehen, wir waren ganz allein in Wald und Flur. Wir hatten beide ein rot, weiß kariertes Kleidchen an, dazu weiße Kniestrümpfe mit passenden Riemchensandalen - unser Sommersonntagsstaad. Mein Vater war mit einem kurzärmeligen Hemd, Jeanshose und Turnschuhen bekleidet. Er stapfte mit den Plastiktüten unterm Arm zielgerecht zwischen den Tannen in Richtung „Dschungel“ los. Darauf gespannt, was er mit den Tüten beabsichtigen würde, liefen wir hinter ihm her. Nein! Gelaufen sind wir nicht, wir sind wie die Rehe im Wald umhergesprungen. Was für eine Energie wir doch hatten! Nachdem es immer weiter bergauf ging, dauerte es nicht lange und wir gaben unsere Sprünge auf. Es muss die zweihundertfünfundsiebzigste Tanne gewesen sein, als mein Vater abrupt stehen blieb. „Da, helft mit“, war seine knappe aber bestimmte Order und reichte jeder von uns eine Tüte. Er verließ den Waldweg, arbeitete sich durch die Hecken und dem teilweise dichten Geäst hindurch. Er ging in die Hocke, hob vereinzelte Blätter an und pflückte kleine blaue Beeren. Sofort amte Nina es ihm nach. „Was sind das für Beeren?“, fragte meine Schwester und öffnete ihre kleine Hand, in der bereits gepflückte, zermatschte Beeren saftig zwischen ihren Fingern klebten. „Heidelbeeren, das sieht man doch!“, erklärte ich ihr. „Kann man die essen?“ „Natürlich! Sonst würden wir sie doch nicht pflücken, du Blödian!“ Nun kniete ich mich ebenfalls zwischen den Sträuchern auf den harten, von Ameisen wimmelnden Waldboden und versuchte diese kleinen, blauen Dinger zu finden. Das war nicht einfach! Aus dieser hockenden Perspektive konnte ich die Heidelbeeren nicht sofort ausfindig machen. Zuerst musste ich jedes einzelne Blättchen nach oben biegen, in der Hoffnung darunter welche zu finden. Doch sobald ich das tat, schwirrten Hunderte von Stechmücken hervor und erfreuten sich an meinem Blut. Ich war beschäftigt, die Mücken zu verscheuchen, deswegen hatte ich noch keine einzige Heidelbeere gepflückt. Ich schaute zu meiner Schwester hinüber, sie hockte etwa zwei Meter von mir entfernt in der Heidelbeersuchpose und ich erkannte an ihren fuchtelnden Gesten, dass es ihr nicht anders erging. „Papa!“, schrieen wir gleichzeitig, „da sind lauter Schnaken!“ Wir ließen die Plastiktüten fallen und rannten zum Waldweg zurück, von dem wir angenommen hatten, dass es dort keine Stechmücken gäbe. „Dann jagt sie halt davon!“, war die, ach so helfende Antwort, unseres Vaters. „Aber ich kann so keine Beeren sammeln, wenn die mich immer stechen!“, sagte ich und kratzte mit beiden Händen meine Haut an den Beinen wund. „Das geht schon! Ich mach's ja auch.“ „Du hast ja auch eine Hose an, Papa!“ „Mich beisst es überall!“, wimmerte Nina und kratzte sich ebenfalls an ihren Armen, Beinen und im Gesicht. „Meine Güte! Stellt ihr euch an!“, rief mein Vater und klatschte sich auf den Nacken. Wir gaben seltsamer Weise nicht auf, sondern starteten noch einen letzten Versuch, die saftigen Heidelbeeren zu pflücken. Es verging keine Minute, da rannten wir schreiend und mit den Armen fuchtelnd wieder aus den Hecken heraus. Uns juckte es überall am Körper, wir fühlten uns in unserer Haut nicht mehr wohl und die anfängliche, fröhliche Stimmung war blitzartig verschwunden. Von unserem Vater sahen wir nur seinen Oberkörper, wie er das Gestrüpp nach Heidelbeeren absuchte. Hin und wieder hörten wir, dass uns bekannt gewordene Klatschgeräusch, wenn er wieder eine Mücke erschlagen hatte. „Papa, komm wir gehen woanders hin, wo es keine Mücken gibt!“, wimmerte ich. „Im Wald gibt es überall Schnaken!“, rief mein Vater aus der Pampas heraus. „Dann gehen wir eben nach Hause, bitte Papa, es juckt überall!“ „Ja, gehen wir!“, meinte nun auch Nina. Er stand auf und ging auf uns zu, in seiner rechten Hand hielt er die bereits zu einem Viertel gefüllte Heidelbeertüte. Ich glaube, auch ihm wurden die Mücken zuviel, denn sonst wäre er, wie ich meinen Vater kannte, nicht auf unser Gejammer und Gezeter eingegangen. Er gab uns die paar Heidelbeeren, die er noch nicht in seine Tüte getan hatte, zum Essen. Trotz unseren zu dicken Beulen angeschwollenen Stichwunden schmeckten sie vorzüglich! Wir liefen auf eine Lichtung zu, die von der Sonne hell und warm beschienen wurde. Eine Parkbank stand einladend und einsam auf dieser idyllischen Anhöhe, selbst eine Postkarte hätte nicht schöner aussehen können. Was für ein Gegensatz zu dem kalten, dunklen, von Stechmücken bewohnten Wald! Wir setzten uns, wärmten uns auf, aßen die restlichen Heidelbeeren und genossen den uns dargebotenen Ausblick. Nina und ich kratzten mit unseren vom Heidelbeersaft verschmierten Fingern an den zahlreichen Stichwunden. Meine Schwester sah bereits, wie eine wandelnde Blaubeere aus. Wir schauten auf einen dunkelblauen See hinab, dieser war von dichten Tannen umsäumt. Schnuckelige Schwarzwaldhäuser konnten wir dazwischen ausmachen. Ein großer Greifvogel der über dem See kreiste, gab diesem Bild ein kitschiges Image, wahrscheinlich hielt der Vogel nach Fischen Ausschau. „Papa, was ist das für ein See?“, fragte ich, inzwischen wieder bester Laune. „Das ist der Titisee“, antwortete mein Vater. Nina und ich schauten uns an und begannen zu kichern, denn den Begriff „Titis“ hatten wir mehrmals in einem anderen Zusammenhang gehört. Wir amüsierten uns köstlich, dass dieser See den gleichen Namen trug, wie die zwei runden Dinger, die Frauen unter ihrer Bluse haben. Mein Vater muss sich, bei diesem uns dargebotenem Ausblick, sehr wohl gefühlt haben, auf einmal wurde er zum Redner und wir waren die Zuhörer. „Unter dem See, am Grund, liegt eine ganze Stadt versunken“, begann er zu erzählen und schaute auf das ruhige Gewässer. „Vor vielen Jahren gab es dort unten keinen See, sondern eine große Stadt mit vielen Menschen, Einkaufshäusern und Strassen. Eines Tages begann es zu regnen und es hörte nicht mehr auf. Die Stadt lag in einem tiefen Kessel und dieser füllte sich solange mit Regenwasser, bis nur noch die Kirchturmspitze herausschaute, und als es immer noch nicht aufgehört hatte zu regnen, verschwand auch die im See. Man sagt, dass in der Nacht, wenn alles ruhig ist, die Kirchturmglocke zu hören sei.“ Als mein Vater seine Geschichte beendet hatte, saßen wir still auf unserer Bank, schauten auf den See und stellten uns die Stadt darunter vor.
Meine Mutter und ich waren einmal in einem Zoogeschäft, dort gab es viele Aquarien und eins davon war mit einer künstlichen, kleinen Stadt ausgestattet. Die Fische schwammen zwischen den Häusern und durch die Fenster hindurch, genau so stellte ich mir nun das Bild unter dem kristallblauen See vor. Meine Schwester hatte ähnliche Gedanken, denn sie fragte. „Sind da Fische im See drin, Papa?“ „Ja, natürlich, sogar ganz Grosse.“ „Beißen die?“ „Die großen Fische leben ganz unten auf dem Grund, die kommen nie hoch.“ „Wenn ich mit einer Taucherbrille in dem See schwimme und unter Wasser schaue, sehe ich dann die Stadt?“, fragte nun ich. „Nein, die Stadt ist so weit unten, soweit kann man nicht sehen“, meinte er bestimmt und stand im gleichen Moment von der Bank auf. Die Sonne hatte sich hinter aufkommenden, grauen Wolken versteckt, eine kühle Brise kam auf. „Es wird bald regnen, wir müssen uns beeilen!“, sagte mein Vater das Wetter voraus. Wir trotteten ihm hinterher, aber unsere Gedanken verweilten an dem See und seiner untergegangenen Stadt. Der Wind wurde stärker, er pfiff durch die Baumkronen, sie bogen sich furchteinflössend. Wir waren froh, dass wir rechtzeitig zum Auto gelangten und uns in die Sitze fallen lassen konnten. „Gehen wir jetzt heim?“, wollte ich wissen. „Ja, wir sind spät dran.“ Unser Vater war wieder schweigsam geworden. Nach zehn Minuten Fahrt fiel mir auf, dass mein Vater nicht wie erwartet zielgerecht nachhause fuhr. Er lenkte den Wagen ziellos durch die fremde Umgebung. Mal fuhr er nach rechts, mal nach links, hielt für einen kurzen Moment an und legte dann den Rückwärtsgang ein. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, die ersten Tropfen klatschten auf die Frontscheibe, mein Vater betätigte die Scheibenwischer und das Licht. „Papa, suchst du was?“, fragte ich irritiert. „Ja, eine Abkürzung die ich einmal gefahren bin.“ „Wieso denn?“ „Weil es schon spät ist und das Benzin knapp wird.“ „Dann geh' doch tanken.“ „Hier gibt es aber keine Tankstelle!“, teilte er uns mit und lenkte das Auto immer weiter in die Irre. Nina spielte auf der Rückbank mit ihrer Puppe und gab ein Singsang zum Besten. Nun fuhren wir durch eine kleine Strasse und wieder umgab uns der dunkle Wald. Hie und da tauchten zwischen den Tannen vereinzelte Wiesen auf. Es war finster geworden. Das Radio wurde nicht eingeschaltet, dafür hatten wir Nina und ihre Arien. Auf einmal fing das Auto an zu holpern und zu stottern, ich dachte,“wie fährt denn der heute?“ Sogar Nina brach ihre Kinderlieder ab. Das Auto blieb stehen. „Mist!“, rief mein Vater aus. „Papa, was ist denn los?“, wollten Nina und ich fast gleichzeitig wissen. „Ist das Auto kaputt?“ „Nein. Das Benzin ist leer.“ „Und was machen wir jetzt?“, fragte ich ängstlich. „Jetzt müssen wir laufen. Steigt aus!“ „Was? Bis nach Hause laufen?“, fragte Nina erstaunt und erschreckt. „Nein, nur bis zur Tankstelle.“ „Ist es denn weit bis dahin?“, wollte ich wissen. „Nein, die muss da vorne sein, so weit ich mich erinnern kann.“ „Wo da vorne?“ „Nach den Bäumen.“ „Nach welchen Bäumen?“ Er zeigte auf die, mit dem Auge noch sichtbaren, anscheinend letzten Tannen. „Die da vorne. Steigt jetzt aus!“ „Aber es regnet doch!“ „Das sehe ich auch.“ Wir waren dem strömenden Regen schutzlos ausgeliefert. Die Plastiktüten, die wir im Heidelbeergestrüpp zurückgelassen hatten, wären uns nun sehr nützlich gewesen. Unser Vater holte den Ersatzkanister aus dem Kofferraum und schloss das Auto ab, mittlerweile donnerte und blitzte es heftig. Wir marschierten los. Unseren Stichwunden juckten teilweise noch immer, aber das von oben kommende kühle Nass tat den Wunden sehr gut. Als wir endlich Papas erwähnte Bäume erreicht hatten, registrierten wir erneut weitere unzählige Bäume. Es wollte kein Ende nehmen! Es war dunkel und unheimlich, denn die einzigen Geräusche die wir vernahmen, war der orkanartige Wind und das Rascheln der einheimischen Tiere, das aus dem Wald zu uns drang. Das Prasseln des Regens auf der Strasse und das grollen des Donners war dagegen ein uns bekanntes, weniger unheimliches Geräusch, doch alles zusammen, war sehr furchteinflössend. „Papa, ist es noch weit?“, nörgelten wir. „Nein hinter den Bäumen.“
Nach etwa einer dreiviertel Stunde wurden die Bäume von Weizenfeldern abgelöst. Der Regen ging in ein Tröpfeln über und hörte dann ganz auf. Toll! Es brachte uns keinen Vorteil mehr, wir waren bereits bis auf die Haut durchnässt. Mein Vater hatte recht behalten, denn ein kleines Häuschen, in dem im Untergeschoss zwei Lichter brannten, erschien hinter dem Weizenfeld, worauf zu schließen war, dass wir in die Zivilisation gelangt waren. Als wir näher an das Haus herankamen, blieb mein Vater stehen und rief erfreut aus. „Ich habe es gewusst!“ „Was hast du gewusst?“, wollte ich wissen. „Das da eine Tankstelle ist.“ „Aber dort ist doch keine!“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, erblickte ich vor dem Häuschen eine kleine Zapfsäule. Wir gingen auf das Haus zu. Mein Vater klingelte an dem einzig angebrachten, in Messing gefassten Namensschild, auf dem „Bader“ geschrieben stand. Wir hörten schlurfende Schritte. Ein uralter Mann, er war fast so klein wie ich und hatte ein von vielen, tiefen Runzeln geprägtes Gesicht, öffnete uns die bäuerlich wirkende Haustüre, die gar nicht zu dem schönen modernen Türschild passte. Auf seinem Kopf hatte der alte Mann ein paar spärliche, graue Haare und unter seiner Hornbrille erkannte ich erblasste, blaue Augen, seine buschigen Augenbrauen bildeten einen Balken darüber. Auf der Nase hatte er eine erbsengroße, schwarze Warze, aus der ebenfalls graue Borsten herausstanden. Meine Schwester versteckte sich hinter Papas Rücken. „Guten Abend!“, begrüßte mein Vater den Greis. „Entschuldigen sie bitte die späte Störung, aber mein Benzin ist ausgegangen und wir sind bis hierher gelaufen. Könnte ich wohl meinen Ersatzkanister bei ihnen auffüllen?“ Er zeigte auf den leeren Ersatztank. „Guten Abend“, begrüßte uns der alte Mann. „Ja, selbstverständlich, können sie bei uns tanken. Es kommt des öfteren vor, dass wir nächtliche Besucher bekommen.“ „Oh, das wäre wirklich nett von Ihnen, hier hat es, so weit ich weiß, keine weiteren Tankstellen, oder?“ „Die Nächste ist erst kurz vor Neustadt. Ohne Auto und dazu mit solch süßen, kleinen Mädchen, wäre das viel zu anstrengend. Die Kleinen sind ja völlig durchnässt! Kommen sie doch herein und wärmen sie sich erst einmal auf.“ Er hielt uns die Türe einladend geöffnet und winkte uns herein. „Nein, das ist doch nicht nötig. Sie müssen sich wegen uns keine Umstände machen. Wir brauchen bloß...“ „Die armen Kinder, sie werden sich erkälten, sind ja ganz nass. Kommen Sie, kommen sie“, unterbrach er meinen Vater. Der Gedanke, in dieses Haus zu gehen, war mir nicht geheuer, unwillkürlich erinnerte ich mich an Hänsel und Gretel. Mein Vater ging voran, uns blieb keine andere Wahl als ihm nachzugehen. Der Hausgang roch modrig, war finster und kühl. „Hier gleich rechts ist die gute Stube. Nur herein mit euch“, geleitete der alte Mann, uns in sein Wohnzimmer. Unbeholfen standen wir in einem klitzekleinen, muffigen Raum. Trotz seiner geringen Größe war das Zimmer vollgestopft. Altes Mobiliar, vom Sekretär bis zu verschiedenen Höckerchen, standen zahlreich auf dem Boden und an jeder freien Wand. Teppiche, Kissen, Nippes, besetzten die noch übrig gebliebenen freien Plätze. „Setzen sie sich doch, nur keine Scham. Unser Haus steht für Menschen in Not immer offen.“ Wir quetschten uns auf die heruntergesessene Couch und schoben die vielen samtenen mit Trotteln besetzten Kissen zur Seite. Speckig gewordene, mit Fransen verzierte Kopfschoner gaben dieser Couch den typischen Großtantentouch. Die Beine schön nebeneinander gestellt und mit graden Rücken saßen wir artig da. „Elfriede! Setz doch Wasser für den Tee auf. Wir haben Gäste bekommen!“, rief der Greis heißer den Flur hinaus. „So Kinder, gebt mir doch eure nassen Sachen, ich lege sie in die Küche auf den Ofen, dort trocknen sie ganz schnell.“ „Bitte machen sie sich doch keine Umstände! Wir können sowieso nicht lange bleiben. Wir müssen nach Hause, die Kinder müssen ins Bett, morgen haben sie Schule und meine Frau wird sich Sorgen um die Kinder machen.“, warf mein Vater ein und wir beide nickten zur Bekräftigung. Der alte Mann kam auf mich zu, ich wich automatisch näher an meinen Vater heran. „Wie heißt du denn?“, fragte mich Herr Bader. „Meine Mutter sagt Pussi zu mir“, antwortete ich brav. „Also, Pussi, geh doch raus in den Flur. Dort steht ein Telefon. Kannst deine Mutti anrufen und ihr sagen, dass ihr später Nachhause kommt. Damit sie sich keine Sorgen machen muss.“ Das tat ich sofort, aber Zuhause nahm niemand den Hörer ab, daraufhin ging ich wieder ins Wohnzimmer. „Das ging aber schnell“, meinte der alte Mann. „Es nimmt niemand ab“, antwortete ich. „Nun, da kann man nichts machen, aber Mädels ihr müsst unbedingt eure nassen Sachen ausziehen. Elfriede! Bring doch noch zwei Jogginganzüge von Klara mit. Das ist meine jüngste Urenkelin, müsst ihr wissen!“, teilte er uns stolz mit. Wir schauten unseren Vater fragend an, er nickte. Daraufhin begannen wir unsere nassen Schuhe und Strümpfe auszuziehen. „Also, ich heiße Fred. Darf ich ihren Namen auch erfahren?“, fragte Fred meinen Vater. „Schnei...“, wollte er sagen, überlegte es sich dann doch anders. „Ich heiße Gottlieb.“ „Also, Gottlieb, wo steht denn ihr Auto?“ „Ungefähr ein bis zwei Kilometer von hier. Zwischen Bruderhalde und Bühlhof.“ In diesen Moment ging die Wohnzimmertüre auf und eine strohblonde, ebenfalls uralte Frau kam herein, sie trug ein Tablett auf ihren zittrigen Händen. Fred stellte sie als seine Elfriede vor und war ihr beim Türöffnen behilflich. Elfriede war mit allerlei indianischem Schmuck behängt, bei jeder ihrer Bewegungen klimperten die Schmuckstücke aneinander. „Fred, die Kleidungsstücke von Klara liegen auf dem Küchentisch, bringe sie den Kindern, bevor sie sich erkälten.“ Das war Elfriedes erster Satz, den wir von ihr hörten. Nachdem sie uns nun sehr herzlich begrüßt hatte, war sie uns Kindern behilflich, die restlichen nassen Sachen auszuziehen, mit diesen verschwand sie in der Küche, um sie zu trocknen, wie sie sagte. Es wurden fünf Gedecke auf dem kleinen, mit Spitzendeckchen überhäuften Tisch hergerichtet. Ein dampfendes gelbes Etwas wurde in unsere Tassen eingeschenkt. In einer alten, beschlagenen Kristallschale wurden Kümmelschnitten dargeboten. „Greift zu Kinder, ihr habt sicher Hunger nach so einem Marsch!“, sagte die gute, alte Elfriede. „Ja, aber Kinderchen, seid ihr krank?“ Sie schaute in unsere Gesichter. „Nein, nein“, warf mein Vater schnell ein. „Wir waren Heidelbeeren pflücken, sie waren sehr saftig.“ Sie war erleichtert, vielleicht dachte sie, wir brächten die Pest ins Haus. „Oh ja, in dieser Gegend wachsen die besten Heidelbeeren“, gab Elfriede mit ihrer Heimat an. „Wir machen Heidelbeerwein daraus. Möchten sie ein Gläschen probieren?“, fragte Fred. „Nein danke! Wir haben es wirklich sehr eilig, wir...“ „Wo wohnt ihr denn?“, unterbrach Fred meinen Vater erneut. „In Schwenningen.“ „Das ist, wenn sie auf der Hauptstrasse sind, doch nur noch ein knappes Stündchen von hier entfernt. Auch ihnen wird es gut tun, sich ein bisschen von innen aufzuwärmen!“ Mein Vater hatte ebenfalls seine Schuhe und Socken ausgezogen, aber Hose und Hemd behielt er an, obwohl sie ebenfalls nass waren. Er gab es auf, noch irgendwelche Einwände zu bringen und schon stand vor ihm ein leeres, kelchartiges Glas und eine Flasche vom selbstgekelterten Heidelbeerwein auf dem Tisch. Fred schenkte meinem Vater ein, währenddem wir Zucker in unsere Teetassen löffelten. „Aber Papa, du magst doch keinen Wein!“, sprach ich überrascht aus. Er reagierte nicht auf meinen Einwand, er trank in einem Zug leer und komplimentierte das Säftchen. „Ja, wirklich gut.“ „Wir müssen jetzt gehen!“, sagte er und zog sich seine nassen Schuhe wieder an. „Aber sie können den Kindern doch nicht zumuten den ganzen Weg zurückzulaufen. Wissen Sie was? Meine Frau wird sie zum Auto fahren und die Kinder bleiben solange hier und trinken ihren Tee leer“, machte Fred uns den Vorschlag, der sich wie ein Befehl anhörte. Er wartete keine Antwort ab, sondern sagte zu seiner Frau. „Gell, Elfriede? Die armen Kinder!“ „Ja, ja, so machen wir es. Ich hol nur schnell die Kleidchen der Mädchen vom Ofen, aber ich glaube nicht, dass sie schon trocken sind! Sie können die Sachen mit der Post zurücksenden, ich gebe ihnen nachher unsere Adresse!“, meinte Frau Bader energisch und verließ den Raum. „Wissen sie, ich darf nicht mehr Auto fahren. Ich sehe sehr schlecht, nur noch zehn Prozent auf beiden Augen!“, begann Fred die Unterhaltung fortzuführen. Mir wurde mulmig, bei dem Gedanken, alleine mit einem nach Hexenmeister aussehenden Mann, in diesem Hexenhäuschen zurückgelassen zu werden. Mein Vater dagegen war froh, nicht den weiten Weg zurücklaufen zu müssen, deswegen wunderte es mich gar nicht, dass er die Idee für gut befand. Er hatte keine Bedenken, dass es uns bei diesem netten Großväterchen nicht gut gehen könnte. Elfriede kam herein, in einer Hand hielt sie unsere immer noch nassen Kleidungsstücke und in der anderen einen Motorradhelm. Mein Vater erstarrte bei diesem Anblick! Frau Bader bemerkte den erschrockenen Blick und griff schnell ein. „Keine Angst, ich fahre ganz vorsichtig.“ „Ja, aber haben sie denn kein Auto?“, fragte mein Vater enttäuscht. „Nein, nein. Wir haben noch nie eins besessen. Viel zu teuer, wissen sie? Und das Motorrad hat uns schon viele Dienste geleistet. Glauben sie mir, meine Elfriede wird sie sicher zu ihrem Auto fahren.“ Mein Vater schluckte und sagte. „Nun, dann mal los!“ Sie verschwanden aus der überhitzten Stube, Nina und ich waren allein. Sofort eilte ich zu den kleinen Fenstern und schob die vielschichtigen Gardinen zur Seite. Ich war gespannt, wie mein Vater mit einem Motorradhelm aussehen würde und kicherte bereits, obwohl ich ihn noch nicht sah. Nina lief mir wie immer hinterher und tapste mit ihren Heidelbeer-Kümmelschnitten-Finger auf die ordentlich geputzte Fensterscheibe. Herr Bader und mein Vater erschienen in meinem Gesichtsfeld, sie gingen zu der Zapfsäule und füllten den Ersatzkanister. Die gute Elfriede fuhr sachte, mit dem, noch aus dem zweiten Weltkrieg stammenden, mattschwarzen Motorrad auf meinen Vater zu. Sie hatte sich umgezogen, ohne Helm, in Lederjacke, Nierengürtel und ungelogen - Cowboystiefeln, saß sie nun wartend auf dem knatternden Gefährt. Ich lachte, als ich sah, wie mein Vater einen visierlosen Helm aufsetzte und das Riemchen unter seinem Hals verschnürte. Ich wusste, dass sein größtes Problem nicht die Angst vor der Fahrt, mit der vergreisten Motorradbraut war, sondern dass seine Frisur, die schon durch den Regenmarsch gelitten hatte, nach dieser Motorradfahrt einer Wüstensturmfrisur gleichen würde, dabei hatte er seine Haare liebevoll eingewachst und mit Haarspray besprüht.
Selbst im Schwimmbecken tauchte er seinen Kopf nie unter Wasser, sondern hielt ihn steif und starr in die Höhe, damit auch ja kein einziges Härchen nass werden würde. Seine Haarfeinde hießen Wasser, Wind und fremde Hände.
Er setzte sich professionell hinter Elfriede auf, hielt sich mit einer Hand am Gepäckträger fest und mit der anderen Hand hielt er den von Herr Bader gereichten Kanister. Elfriede knatterte vorsichtig los! Nina und ich kugelten uns vor Lachen und hielten unsere Bäuche. Als Herr Bader hereinkam, hörten wir sofort mit dem Gekicher auf, brav begaben wir uns auf die Couch und nippten an unserem gelben Tee. „Was ist das für ein Tee?“, fragte Nina mich. „Ich weiß nicht“, antwortete ich und schaute in meine Tasse. „Das ist Fencheltee, sehr gesund Kinder, trinkt nur, euer Vater ist ja bald wieder da. Nehmt doch noch mehr von den Kümmelschnitten. Die sind selbst gebacken!“, antwortete Fred. „In der Zwischenzeit erzähle ich euch ein paar Geschichten. Wisst ihr, ich bin ein guter Geschichtenerzähler. Ihr könnt meine Enkel fragen, aber die sind jetzt schon groß.“ „Au ja! Kennen sie Gruselgeschichten?“, fragte Nina begeistert. „Ja, natürlich! Lasst mich mal überlegen, ja da fällt mir eine ganz, ganz gruselige ein“, und er begann zu erzählen.
Die Stubentüre ging auf, Elfriede stand mit einer verschnupften Nase und roten Wangen an der Schwelle und sagte. „So Kinder, wir sind wieder da. Das Auto ist aufgetankt und euer Vater wartet draußen im Auto auf euch. Geht nur schnell.“ Wir verabschiedeten uns von dem alten Ehepaar und gingen hinaus. Vaters Haare waren schlimm durcheinander, durch das Wachs, den Regen, dem schweren Helm und der Zugluft, sah er aus, wie ein im Regen liegengelassener, überfahrener Igel. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er fragte, den Blick auf die Strasse gerichtet, wie es uns bei Fred, in seiner Abwesenheit ergangen sei. „Herr Bader hat uns eine Gruselgeschichte erzählt. Aber Papa, die war nicht gruselig!“ „Was dann?“ „Die war...die war schrecklich!“, ich begann zu schluchzen.„Papa, ich gehe nie wieder in diesen Wald, nie wieder.“, sagte ich bestimmt. „Und ich auch nicht“, gab Nina ihren Senf dazu. Ich erzählte ihm in Kurzversion die kinderungeeignete Gruselgeschichte. „Also, da war einmal ein Mann und eine Frau und die sind hier in diesen Wald gefahren“, begann ich und zeigte nach hinten. „Und dann ging das Benzin aus. Genau wie bei uns. Also sagte der Mann zu der Frau, sie soll hier im Auto auf ihn warten, er würde bald wiederkommen. Sie wartete und schlief ein. Sie wachte auf, weil jemand ganz laut auf das Dach klopfte. Und dann sah sie einen grässlich aussehenden Mann. Sie drehte ein bisschen die Scheibe herunter, aber nur einen kleinen Spalt und rief ihm zu, er solle aufhören, es mache ihr Angst und das Auto würde davon kaputt gehen. Und dann sah sie wie Blut die Frontscheibe herunterlief und sie sah, womit der grässliche Mann klopfte. Stell dir vor Papa, mit dem Kopf von ihrem Freund und dann hat sie schrecklich geschrieen und der Mann hatte dann mit dem Kopf die Scheibe eingeschlagen und auch sie umgebracht! Papa, ich gehe nie wieder in diesen Wald, nie, nie wieder!“, schloss ich die schaurige Geschichte. „Ich kenne die Story, die erzählt man sich aber überall, in jeder Stadt. Außerdem ist diese Geschichte frei erfunden, das ist nicht wirklich passiert“, versuchte mein Vater die Geschichte herunterzuspielen. „Meinst du wirklich?“ „Ja, das ist sicher nur ein Märchen.“
Viele Jahre später, war ich mit meinem Sohn Sidney auf dem Heimweg nach Singen, nachdem wir einen Bekannten in Freiburg besucht hatten, den ich vor einiger Zeit in Kenia kennen gelernt hatte. Aufgrund einer Umleitung musste ich einen Umweg in Kauf nehmen und fuhr dadurch zufällig an dem kleinen Häuschen von damals vorbei. Ich erkannte es sofort wieder. Die Zapfsäule war nicht mehr da, aber sonst hatte sich nichts verändert. Ich hielt an, ließ die Scheibe herunter und atmete die warme Sommerluft ein. Ja, der Fred und die Elfriede, die sind bestimmt schon lange tot, machte ich mir meine Gedanken, in diesen Moment ging die Türe auf. Zwei Mädchen, beide etwa gleichaltrig kamen heraus und sprangen dann die drei Stufen vor dem Haus hinunter. Eines der Mädchen hatte ein Springseil in ihrer Hand und nach anfänglichen Streitereien, wer zuerst das Spiel beginnen darf, sprang das ein wenig älter aussehende Mädchen mit dem Seil und dazu sang sie einen Hüpfreim.
Einmal eins ist zwei, holt schnell die Polizei. Zwei und eins ist drei, pass auf, er schlägt dein Kopf zu Brei.
Zwei mal zwei ist vier, die Bestie kommt zu dir. Zwei mal drei ist sechs, der Wald, der ist verhext...
Ich startete den Motor meines weißen Opel Vectras und fuhr nachhause.
Claudia Geisselhardt Fertig gestellt am 2.10.01
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