Eure Geschichten

Herbstgeflüster


Auf einer Parkbank, am Ufer meines Flusses, den Blick auf eine Holzbrücke gerichtet, deren Vergangenheit die rostigen Schrauben im morschen Holz verraten, sitze ich Antonio Pedro Rodriguez, an einem kühlen, sehr windigen Oktobermorgen. Meinen speckig gewordenen, alten Hut habe ich, aus Angst, er könnte in den Fluss geweht werden, abgesetzt und auf meinem Schoss gebannt. Den steifen Mantelkragen habe ich aufgeschlagen, um den Wind nicht in mein Innerstes wehen zu lassen. Ich schaue auf das Gewässer, das ein paar Meter von mir entfernt, ruhig, mit Ausnahme von ein paar kleinen Strudeln, seit Jahren dahinfliesst. Der Fluss ist nicht gealtert, er hat nie aufgehört, immer die gleiche Menge an Wasser flussabwärts zu befördern. Nur die Landschaft, die den Fluss umgrenzt, hat sich, seit ich zum ersten Mal auf dieser harten Parkbank sass, verändert. Wo früher kein einziges Wohnhaus, nur alte Scheunen und Hochstände für den Förster am Waldrand standen, kann man nun fast in die Wohnzimmer der Neureichen deren Alltagswelt beobachten. Die alten Hütten wurden abgerissen, ein Panoramarestaurant entstand. Der südliche Teil der Landschaft wurde zum Naturschutzgebiet ernannt. Die massiven Kastanienbäume von damals sind nun zu alte Riesen, zu Beschützer der einsamen Spaziergänger geworden. Auch sie haben sich verändert. Die Kinder, die einst von den Eltern an den Händen gehalten, am Fluss entlang schlenderten, wohnen jetzt in den Neubauten am Rande des Waldes. Menschen und Landschaften mit Geschichte, von mir seit vielen Jahrzehnten beobachtet.
Ich Antonio Pedro Rodriguez, Sohn eines Spaniers, Sohn einer kühlen, stolzen Dänin, bin jetzt ein alter Mann. Jeden Morgen, den ich hier verbringe, bewegen sich meine Lippen, als würde ich eine Geschichte erzählen, die niemand je anzuhören bereit war. Es ist, als hätte ich akzeptiert, dass der Fluss, die Brücke, die bei starkem Wind ein Summen von sich gibt, meine einzigen Zuhörer sind, immer aufmerksam, kommentarlos. Um mich herum, nehme ich das Rascheln des Laubes, das Rattern der Brücke, wenn ein Lastwagen den Fluss überquert, das Kindergeschrei der angrenzenden Stadt wahr, während ich hier abwechselnd auf der Brücke stehe oder auf der Bank sitze, wenn meine alten Knochen es mir befehlen und von Menschen spreche, die eine grosse Rolle in meinem Leben spielten.
Die Brücke und der Fluss sind ein lebendiger Teil meiner zu erzählenden Geschichte. Es ist eine, in unserer heutigen Zeit, triviale, alltägliche, nicht besondere Geschichte, aber wie mir scheint, unmöglich zu vergessen. Es ist meine Aufgabe, nein: meine Verpflichtung sie den aufsteigenden Nebelschwaden, die der Fluss am Herbstmorgen frei werden lässt und bei Beginn der Mittagszeit sich ins Nichts auflösen, zu erzählen.
Jedes Jahr, seit dreiundvierzig Jahren spaziere ich im Morgengrauen in den Herbstmonaten an diesen Ort. Es ist ein langer Marsch, an den wüsten Tagen ist es für mich besonders anstrengend. Wenn der graue, wolkenverhangene Himmel meint, er müsse sich von seiner unangenehmen Seite zeigen. Wenn der zugig, kalte Ostwind, so wie heute, mir meinen aufgeschlagenen Kragen vom Mantel, hart herunterdrückt. Wenn kühler Nieselregen meine Bank nass und glitschig werden lässt, sich am Boden darunter Lehmpfützen bilden, weil das Gras keine Kraft mehr besass, sich durchzusetzen, meine Stiefel dort im Schlamm verharren müssen, meine Füsse die aufsteigende Feuchtigkeit zu spüren bekommen.
Ich gehe jeden Morgen und bleibe bis die Nebelschwaden, beim Durchbrechen der Sonne sich auflösen.
Jetzt will ich von einem Mann und einer Frau sprechen, die beide vom Herbst und dem dampfenden Fluss fasziniert waren. Deren Geschichte vielleicht hier begann... Die Frau war meine Mutter, die mich im Tierkreiszeichen des Fisches, im Jahre 1990 geboren hatte. Eine Zeit, in welcher noch kein Mensch von Gentechnologie oder Stammzellentransplantation gehört hatte oder zumindest an die Durchführung dessen geglaubt hätte, als dies noch in der Forschung lag. Der Medizin habe ich zu verdanken, dass ich aus meinem behinderten Dasein herausgerissen wurde, dass ich ein normales Leben führen durfte. Der Medizin habe ich zu verdanken, dass meine Mutter zu früh gestorben ist. Was ich jetzt den hohen Bäumen zuraune, wurde mir von Freunden, Verwandten, die meisten jetzt nicht mehr am Leben sind, berichtet.
Im Alter von drei Jahren fiel ich in einen Weiher, nahe des Hauses, in dem wir damals gewohnt hatten. Kurioser Weise, passierte der verhängnisvolle Unfall, an einem Herbsttag. Nach Jahren des Komas, erwachte ich langsam wieder zu Leben. Doch den gesunden Sohn, den meine Mutter damals hatte, war im Weiher ertrunken, für immer verloren. Teile meines Gehirns waren abgestorben. Schwerbehindert, wie ich war, konnte ich nicht mehr gehen, sitzen oder selbstständig essen. Spastiken und epileptische Anfälle erschwerten zusätzlich meine Situation. Ich selber konnte meine Behinderung geistig nicht oder nur teilweise erfassen. Ich wurde von meiner Mutter und meinem Grossvater über Jahre hinaus gepflegt. Mein Vater war selig, arbeiten gehen zu dürfen. Neunzehn Jahre lebte ich in meiner behinderten Welt. Manchmal träume ich aus dieser Zeit, doch beim Erwachen, lösen sich die Erinnerungen auf, wie ein Klümpchen Asche, das sich von einer Zigarre löst und in den Fluss fällt. In den Träumen, meine ich, meiner Mutters Stimme zu hören, Visionen meiner Vergangenheit, Gesichter von Verwandten, Bekannten drängen sich mir auf. Schmerzen erwachen zu neuen Bildern, sehe Krankenhauswände, Frauen in weissen Schürzen, fühle meine Schultüte auf meinem Schoss, ertappe meinen Grossvater beim Spielen mit mir, höre Stimmen der Ermahnungen, vernehme Küsse auf meinen Wangen, spüre das Rattern der Rollstuhlräder unter mir. Ich empfinde eine Sehnsucht nach dem alleinigen Umhertollen, die Angst vorm Alleingelassenwerden, die Freude bei der Erfüllung meiner Wünsche.
Es war im Jahre 2011, als man mich einer kleinen Operation unterzog, die für meine Familie sehr vielversprechend war, Hoffnungen weckten. Sie liessen eine Stammzellentransplantation an mir vornehmen. Der Eingriff selber, sollte kein grosses Unterfangen sein, aber es mussten Vorbereitungen getroffen werden. Es wurden Stammzellen eines Embryos gebraucht, möglichst mit gleichartigen Erbanlagen. Meine Mutter liess sich schwängern. Das ungeborene Kind, mein Bruder wurde mit dem Ziel gezeugt, ihn nach drei Monaten zu töten. Seine Stammzellen wurden zur Herstellung gesunder, frischer Gehirnzellen verwendet, die mir dann geschenkt wurden. Damals wusste niemand so recht, ob es erfolgreich würde. Aber ich wurde im Jahre 2011 noch einmal geboren.
Ich bin ein Mann ohne viel Erinnerungen, ein Mann voller Vergangenheit.
Leider hat meine Mutter, das alles nicht mehr erfahren dürfen. Sie starb unter der Narkose, an einer Herzembolie, als man ihr den Embryo entnahm.
Ich lebte noch einige Zeit bei meinem Grossvater, erlernte meinen Beruf, heiratete, wenn auch spät, und bekam selber Kinder. Erzähle ich das alles für sie? Oder für den Mythos behafteten Mann, den ich seit Jahren suche? Und von dem ich ebenfalls sprechen muss. Wer war dieser Mann? Ich glaube, ich habe ihn nie kennen gelernt, aber aus den Briefen meiner Mutter, welche ich viele Jahre nach ihrem Tod erhielt, hatte er sie geliebt. Er könnte der Erzeuger meines toten Bruders oder einfach nur ein Geliebter meiner Mutter gewesen sein. Manchmal meine ich, mich an Dinge und Personen, vielleicht auch an ihn erinnern zu können, aber eben ich sehe diese Bilder, wie die Landschaft meines Flusses, als wäre ich Bewohner einer aufsteigenden Nebelschwade, durch dessen Fenster ich schaue.
Dieser Mann, war es ein Italiener, Spanier, Portugiese, müsste jetzt über achtzig Jahre alt sein. Ich weiss nicht, ob er noch lebt, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, ihn doch noch zu finden und wenn auch nur sein Grab. Der letzte lebende Verwandte, mein Onkel, hatte mir meine Vergangenheit näher gebracht, doch über irgendeinen Geliebten meiner Mutter, meinte er nichts zu wissen.
Aufgrund eines Briefes von meiner Mutter, den er ihr vor Jahren geschrieben hatte, hoffe ich, jeden Morgen, den ich hier am Fluss verbringe, ihn hier vielleicht zu begegnen. Viele alte Greise sind in den Jahren hier schon entlang spaziert, aber keiner von denen, von mir Angesprochenen, und ich habe alle nach ihren Namen gefragt, hiessen Francesco. Denn so hiess der Verfasser der Liebesbriefe meiner Mutter. Es ist wenig, was ich von ihm weiss, nur ein Teil seiner Sehnsucht zu meiner Mutter und seinen Vornamen. Francesco...
Ein Brief, datiert im Jahr 2010, ein Jahr vor meiner Operation, habe ich in besonderer Erinnerung, trage ihn zerfleddert in meiner Manteltasche. Ich habe ihn so viele Male gelesen, jedes Wort habe ich in meinem alten Schädel eingeprägt, wie die Jahresringe einer Eiche, unauslöschbar. Ich möchte die Worte des sehnsuchtsvollen, zärtlichen, Briefes, die Liebesgeschichte meiner Mutter flüstern, singen, wispern, ganz leise, dass nur die Nebelschwaden des Flusses, sie aufsaugen können.
Jeder, der hier am Fluss Anwesenden, kann sie hören, wenn es windstill ist, die Baumkronen für einen Moment ihre Äste festklammern. Können Francescos Stimme, wie er zu meiner Mutter spricht, vernehmen. Hören wie er sagt, es ist Montag, der fünfzehnte Juli Zweitausendzehn. Liebe Karen, ich habe Feierabend und Freude, dir ein paar Zeilen zu schreiben. Ich weiss gar nicht wie ich beginnen soll, also lass ich mich einfach treiben.
Wo beginne ich? Wo werde ich enden? Was ich dir schreiben werde ist eine Liebesgeschichte, eine dir vielleicht Bekannte, für alle anderen Aussenstehenden eine Triviale, für deine Freunde ein „ah ja“, für mich mein Leben.
Also, gut, ich will es nicht lange machen und schreibe dir meine Gedanken, meine Gefühle, meine Sehnsüchte. Wirst du darüber staunen, weinen, lachen? Es war immer ein Geschenk für mich, wenn ich dich zum Lachen brachte. Ich habe Sehnsucht nach diesem, deinem Lachen! Wenn deine wunderschönen Augen blitzten und deine Stimme sich ein bisschen überschlug. Da sass ich dann, schaute dich an und war so unsagbar glücklich. Unbeschreiblich! Du fragst dich sicher, was dieser Brief, nach so vielen Jahren soll. Wie viele sind es? Ich wühle wie so oft, seit damals in meinen Erinnerungen und tue es gerne, es war eine wunderschöne Zeit und ich ertappe mich sehr oft dabei, dass ich mich in die Vergangenheit verstecke, besonders, wenn es in der Gegenwart wieder mal nicht so läuft. Es gibt sie, diese Momente, wo ich gerne eine Zeitmaschine hätte. Es war für mich fast wie ein Traum, eine Frau wie dich kennen lernen zu dürfen. Unvergessen bleiben für mich gewisse Schlüsselmomente. Die Filmwelt hätte sie nicht besser hinbekommen. Empfindest, oder empfandest du auch so? Ich weiss, ich werde ewig dieser Zeit nachtrauern, zu tief sind die Spuren, zu heftig waren die Eindrücke! Und du spukst immer noch in meinem Kopf herum oder besser gesagt, in meinem Herzen! Es stört mich! Ja es widert mich an! Aber ich bringe es nicht fertig, jeden anbrechenden Tag, nicht an dich zu denken! Die wenigen Male, wo es mir vergönnt war, dich zu sehen, sind nicht, wie man meinen könnte ein Vergnügen, nein! Jedes Mal beginne ich durchzudrehen, meine Realität, meine Ehe mit Maria ist jedes Mal kurz vor dem Zusammenbruch. Aber ich bekomme mich jedes Mal wieder in die Gewalt, bevor es soweit ist. Das hier ist meine Realität, werde darin glücklich, sage ich mir dann jedes Mal von Neuen. Aber man darf ja träumen, also verschwinde ich hin und wieder in meine Traumwelt, wo alles so ist, wie es hätte sein können. Ich habe ein paar Eckpfeiler in meiner Trugwelt, die wie Hinweisschilder immer da sind, die verkünden, dass ich zuhause bin. Ich träume... ich grabe ein Loch für dein dir damals gewünschtes Schwimmbad, weißt du noch? Ja, ich hätte dir Eins gegraben, nur für dich! Der Schweiss rinnt mir von der Stirn, Blasen bilden sich an meinen Händen, vom Spaten in die Erde drücken, auch an den Fussballen... es tut so weh, sie beginnen zu bluten... in meiner Traumwelt trägst du Salbe auf, verbindest mich, mit all deiner Fürsorglichkeit. Es schmerzt jetzt noch immer, es blutet, hört nicht auf, und niemand ist da, der mir meine Wunden heilt. Das ist die Realität! Meine Frau... sie würde ja gerne, aber wo soll sie anfangen zu verbinden, zu cremen, zu küssen, wo sie doch die Schmerzstelle nicht ausmachen kann. Und ich kann sie ihr nicht sagen, weil ich sie selber nicht kenne. Also grabe ich weiter, das Loch immer tiefer, in der Hoffnung und mit dem Wissen, dass man die Blasen erst spürt, wenn man aufhört zu graben. Also grabe, wühle ich im Loch der Vergangenheit, dass dabei immer grösser wird. Ich war damals alleinstehend, du nicht! Und ich hatte es trotzdem in der Hand, ob ich dich bekommen sollte. Und ich, ich lehnte dich ab, hatte Angst. Und heute? Jahre später? Zu spät! Zu spät für dich, zu spät für mich, zu spät für uns. Aber die Blasen an den Händen sind Realität und ich liebe sie, liebe die Schmerzen, weil sie - du bist. In meiner Traumwelt sehe ich dich, noch genau wie damals. Hinter der Kasse, mein erster Weg war direkt zu dir. Am liebsten hätte ich dich damals auf der Stelle geliebt. Wir spürten beide, dass eine unstillbare Kluft, eine Mauer der Hindernisse, dein Mann, meine eigene Schwächen, meine Angst vor Verantwortung dazwischen war. Du sagtest mir einmal, dass du dir mehr Gefühl, mehr Verlangen meinerseits gewünscht hättest. Ich konnte es dir aber nicht geben, weil ich mir selber im Weg war, nichts normal verlief, am wenigsten ich selber! Aber du solltest wissen, dass ich dich begehrt und vermisst hatte und es heute noch tue!! Aber ich hatte Angst. Angst dir etwas anzutun, was du selber aber wolltest! Ich wollte dir in dieser bewegten Zeit zur Seite stehen, aber ich bin mir selber auf den Füssen gestanden! Ich wollte dir helfen! Und brauchte selber Hilfe. Es tut mir leid! Es hätte einiges anders verlaufen können, handfester, offener. Kleine Taten hätten vielleicht grosse Änderungen hervorgebracht?! Wer weiss? Ich habe mir Gedanken gemacht, was Liebe ist, was Liebe bedeutet, was sie für mich heisst. Ich bin der festen Überzeugung, auch wenn wir nur ein paar Monate zusammen waren, dass ich dich liebte. Die Asche ist immer noch warm, obwohl der Vulkan schon lange erloschen ist. Aber der Berg steht immer noch und wird in Jahrtausenden immer noch stehen. Von keinem zerstört zu bekommen, nur die Evolution wird mit den Jahren das Ihrige tun und niemand wird je mehr wissen, was er für mich bedeutet hat...
Selbst heute noch, kann ich dich nicht ansehen, oder dich sanft, fast ungewollt berühren, ohne dass dies ohne Reaktionen bleibt. Es ist immer noch so viel da, es flammt auf, es beginnt zu brodeln, wenn ich dich wieder sehe.
Vor ein paar Tagen, war ich in der Gaststätte, du weißt schon, sie existiert noch immer, mit fremden, neuen, jungen Gesichtern. Es war extrem was da in mir vorging, ehrlich! Und warum? Nur weil du mir dort, ein Papierfröschchen und ich dir ein Papierboot gebastelt hatte. Ich allerdings nicht, ohne dir meine Telefonnummer darin aufzuschreiben, weißt du noch? Und du hast angerufen! Was für ein Telefonat, dass mein Leben für immer verändern sollte.
Nun ja, in dieser Gaststätte war ich mit meiner Frau, frag mich nicht warum. Das sind dann die Momente, in denen ich mich frage, warum ich denn in dieser Ehe bin... und das ist eine gute Frage. Obwohl ich viel zu verträumt durch die Gegend marschiere, habe ich doch noch ein klein wenig Verstand im Schädel. Und gern habe ich sie auch. In den Momenten, in denen ich nicht in meine Traumwelt versinke, sehe ich sogar so etwas wie eine weitere Zukunft mit ihr...
Aber wieso bringe ich es nicht fertig, dich als Freund, oder wenigstens als gute Bekannte zu betrachten? Es geht nicht, du warst meine Traumfrau und durch den Lauf unserer Geschichte, bist du es auch geblieben!! Es ist ja nicht nur die Frau die ich vermisse, nein, auch der Mensch Karen fehlt mir sehr!! Ich hätte so unwahrscheinlich gerne öfters Kontakt mit dir, ich würde so gerne mit dir philosophieren, mit dir jede düstere Bar unsicher machen, einfach dir nahe sein, geistig und körperlich und die Seelen schmelzen lassen!! Ja nun, es braucht ja zwei dazu, und ich denke unsere Träume lassen sich wohl nicht mehr synchronisieren!? Aber was den ganz normalen Kontakt angeht, bin ich selbst schuld, dass es so schwierig ist mich davonzuschleichen. Ich habe meiner Frau zuviel von dir erzählt, zuviel verheimlicht und verschwiegen. Dabei will ich das gar nicht. Aber was soll ich machen?? Sie ist sehr eifersüchtig auf dich und sie weiss ganz genau, dass du immer noch da bist. Sie spürt deine Anwesenheit und deine Macht, die du hast. Sie merkt dann auch, dass es keinen Zweck hat eifersüchtig zu sein. Man könnte genauso gut auf die Sonne neidisch sein, weil ihr Strahl heller ist, als der Eigene. Ich habe ihr weiss Gott, wie viele Male erklären wollen, dass ich meine Chance bei dir hatte und nun Geschichte bin. Es wäre doch so schön einfach, wenn ich dir in die Augen schauen könnte, ohne gleich durchzudrehen. Aber es geht nicht, du bedeutest mir einfach mehr, als es mir zusteht!! Ich sehne mich nach dem Duft deiner Haut, nach deinen Berührungen und nach deinen Lippen! Deine Stimme fehlt mir so sehr, die Art etwas zu sagen, wie nur du es sagen kannst!! Es fehlt mir so sehr, dich zu beobachten, wie du dich bewegst! Wie flüchtig sich unsere Blicke trafen, zwei Augenpaare, wie es sie kein zweites Mal gegeben hat und einzigartig bleiben werden!!! Und du hast mal gesagt, dass ich dich nicht lieben würde, weißt du noch in meiner schummrigen, kleinen, gemütlichen Dachwohnung...
Du hast in meiner Seele eine Wüste hinterlassen, und bist ja gar nicht Schuld daran! Ich bin sehr oft traurig und wehmütig. Am Fluss sitzen und träumen ist bisweilen meine Lieblingsbeschäftigung. Du hast recht, der Fluss ist besonders im Herbst wunderschön, frühmorgens, so nebelverhangen. Es sind so Phasen oder eher Schübe von Melancholie die mich befallen und übermannen! Du weißt ja, dass ich eher ein lustiger Mensch bin. Aber das Häufchen Elend, dass ich manchmal bin... echt schlimm. Und manchmal glaube ich an mir Spuren von Masochismus zu entdecken, einfach darum, weil ich es liebe an dich zu denken.
Ich bin mal wieder, an einem wolkenverhangenen, düsteren Abend unter unserer Brücke gewesen, habe dann mal wieder alles Revue passieren lassen. Im Auto lief meine CD mit unseren Liedern. Ja, ja auch unsere Liebesgeschichte hat ihre Lieder. Erinnerungen kamen auf... Gary Moore lief... weißt du noch, dass war was! Du hast den Laden geschlossen und zu mir gesagt, ich bräuchte nicht zu gehen. Wir sassen dann an einem der hinteren Tische und redeten über Gott und die Welt... ich war sooo glücklich. Oder kannst du dich noch an Toni Espositos Lied Calimba erinnern? Was war das für eine Heimfahrt! Ich und Paul hinten, Stefan total betrunken, und die schönste Frau am Steuer, die ich bis dahin kannte, geschweige denn geküsst hatte! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was da alles in mir vorging! Oder wenn ich Krokus höre, denke ich immer nur an einen Tag. Und ich verfluche diesen Tag! In der Halle, beim Konzert, war ich so glücklich! Und danach war alles weg... einfach weg. Ich brachte dich noch zum Auto vor der Bar, du bist ausgestiegen... und warst weg. Tja das war das Ende...
Und vorgestern haben wir uns wieder gesehen... oh Mist! Ich vermisse dich so! Ich habe es gewusst, bin selber schuld. Ich habe deine Stimme gehört, dich gerochen, deinen sanften Bewegungen bin ich mit meinen Augen gefolgt, als ob meine Hand über deinen wunderschönen Körper streichen würde. Es war, als ob wir Liebe gemacht hätten, mit einer Mauer aus Luft dazwischen!!
Wäre ich alleine, oder nein... hätte ich meine Frau nicht so gern, wäre sie nicht so wichtig für mich, wäre ich ein Schwein ihr gegenüber... dann wäre ich allein und frei!! Und ich könnte mich dir ein wenig nähern, ganz sachte. Ich könnte da sein für dich, wo und wann du es haben wollen würdest! Wir könnten uns treffen, wann und wo es uns gefallen würde, solang es auch dauern würde, die Zeit würde für uns stehen bleiben! Es wäre für mich das Grösste, Karen mit Haut und Haaren zu geniessen, ohne irgendwelche Ehemänner und Ehefrauen, ohne Stress und sich nicht verstecken zu müssen! Ohne Angst, etwas zu zerstören. Sich zu fragen ob es Zukunft hat, oder nicht, wäre dann unwichtig, weil jeder Moment mit dir so schöne Gegenwart wäre, dass die Zukunft für mich nicht mehr existieren würde!! Liebe pur, mit einem Schuss Soda auf Eis. Daran glaube ich ganz fest und es fällt mir schwer, diese intensiven Gefühle zu verbergen.
Ich werde jetzt wieder zur Brücke fahren, eine gute Zigarre rauchen und dabei werde ich an dich denken und mir vorstellen, du wärst hier!
Auf jeden Fall darf ich den Kontakt zu dir nicht mehr verlieren und ich werde mich anstrengen, hier und da abzuschleichen, um mit einer guten, alten Freundin einen Drink zu nehmen, und um Vergangenes und vielleicht Kommendes zu bereden.
Würdest du jetzt an der Brücke vorbeifahren, würdest du einen verträumten Francesco sehen, der wahrscheinlich sein Leben lang, dieser wunderschönen und einzigartigen, atemberaubenden und begehrenswerten Leserin dieses Briefes nachtrauern wird.
Aber er ist unsagbar dankbar sie zu kennen...

Die Stimme Francescos verstummt mit dem Motorengeräusch des sich herannahenden Lastwagens, der über die Brücke donnert.
Ja, ich Antonio Pedro Rodriguez sitze noch immer auf meiner Bank. Ich muss wohl eingenickt sein, denn die Oktobersonne steht schon hoch oben im Zenit, trotzdem gibt sie kaum Wärme ab.
Ich habe meine Geschichte erzählt, befand mich an Orten an denen ich nie war. Lebte einen Teil meiner Mutters Leben, mit mir sind nur mein Fluss, meine Brücke, meine Kastanienbäume.
Hatte meine Mutter nach diesem Brief weiterhin Kontakt zu Francesco? Denn eine kurze Zeit danach, wurde sie schwanger und ich kam ein zweites Mal auf die Welt. War es ihnen noch vergönnt worden, ein Paar zu werden, bevor sie sich von dieser Welt verabschiedete? Oder beliessen sie es und lebten weiterhin in ihrer Vergangenheit? So viele offene Fragen, die mir niemand mehr beantworten kann. Und der Fluss schweigt, man hört nur das Gurgeln der Strudel, der kleinen Stromschnellen. Nun ja, vielleicht sollte man die Wurzeln der Geschichte in der Erde lassen.
Ich hebe meinen Hut vom nassen, mit bunten Blättern belegten Boden auf, er muss mir wohl vom Schoss gefallen sein, ich schüttele die lehmigen Erdbrocken ab, kremple ihn zurecht. Ein Zigarrenetui fällt aus dem Hut auf den Boden. Ich hebe es auf, wische den Dreck an meiner Hose ab, wundere mich, betrachte es. Ein rotes, mit Goldrand versehendes Lederetui. Ich muss Besuch auf meiner Bank gehabt haben, wem dies wohl aus der Hand gefallen ist, sind meine Gedanken. Ich öffne es. Eine Zigarre befindet sich noch darin, sowie ein passender Anzünder und Schneider. Ich nehme die Zigarre heraus, hebe sie mir unter die Nase, schnüffle daran, drehe sie gedankenverloren zwischen meinen Fingern.
Mein Rücken beginnt zu schmerzen, es ist die ungemütliche Holzbank, die mir nun Unbehagen bereitet. Ich nehme mir vor, die mir überlassene Zigarre auf der Brücke, mit Blick auf das unter mir vorbeifliessende Wasser, zu rauchen. Etwas steif geworden, richte ich meinen Kragen wieder zurecht, setze meinen Hut auf. Mit mühsamen Schritten verlasse ich meine Bank, schlurfe durch das hohe Laub, die Stufen zur Brücke hinauf. In der Mitte des Flusses, ein paar Meter darüber mache ich halt und verschnaufe. An einem der vielen alten Pfosten zünde ich mir die Zigarre an. Es ist Jahre her, seit ich zuletzt eine Zigarre geraucht hatte, bin eher dem Pfeifentabak zugetan. Rauchkringel steigen in die Lüfte, verwirren sich im Giebel der Holzbrücke, verflüchtigen sich in der Herbstluft. Ich vermag es nicht zu erklären, warum ich auf ein Geschnitze am Pfosten mir gegenüber aufmerksam wurde, warum ich es noch nie vorher erblickt hatte. Ich kann es nicht lesen, gehe näher heran. Die Buchstaben und Zahlen sind im Holz verwittert, es muss eine sehr alte Gravur sein. Mit meinem Finger kratze ich den Schmutz aus den Ritzen. Leider habe ich meine Lesebrille nicht dabei, also kneife ich meine blassen, altersschwachen Augen zu Schlitzen. Nun kann ich es entziffern, das Jahr 2010 wurde dort mühsam eingeritzt, und darunter ganz klein die Buchstaben K und F.
Die Zigarre fällt mir aus der Hand, fällt die paar Meter hinunter, in den Fluss hinein, wird sofort von der Strömung mitgerissen. Impulsiv beeile ich mich auf die andere Seite der Brücke zu gelangen. Ich kann sie nicht mehr sehen. Ich fasse in meine Manteltasche, spüre das dünn gewordene Papier, des Briefes. Ich falte vorsichtig die einzelnen Seiten auseinander. Ruhig lasse ich eine nach der Anderen ins Wasser gleiten. Ich schaue den Zetteln nach, wie sie sanft, auf der Wasseroberfläche, auf den klitzekleinen Wellen stromabwärts reiten und aus meinen Augen entschwinden.
Ein kleiner Windstoss wirbelt das lose Laub auf der Brücke, um meinen Kopf herum. Mal wieder stelle ich meinen Kragen auf und mache mich auf den Weg, nachhause.


30.10.02 Claudia Geisselhardt & Giovanni Cataldo